5. NAVICARE Symposium Herbst 2019

Am 15. November fand in der Hörsaalruine der Charité das NAVICARE Symposium statt zu…

"Versorgungsrealität und -konzepte bei chronischen Erkrankungen aus verschiedenen Perspektiven"

Sprecherin des Netzwerks, Priv.-Doz. Dr. Nina Rieckmann, berichtete zu Beginn über die Ziele und den Ausbau des Netzwerks während der letzten drei Jahre, auf die nun nach erfolgreicher Begutachtung drei weitere folgen werden. Angesichts persistierender sozialer Unterschiede in Gesundheit stellte sie die Bedeutung von sektorenübergreifenden Unterstützungsangeboten zur „Navigation“ durch das fragmentierte deutsche Gesundheitswesen heraus, die einen aktiven Zugang zu vulnerablen Patientengruppen an verschiedenen Punkten im Versorgungsgeschehen beinhalten sollten. Programmatisch für das NAVICARE Netzwerk seien dabei die gezielte Integration der individuellen Erfahrungen, Präferenzen und Ziele von Patient*innen (Patientenorientierung), sowie der Einbezug von unterschiedlichen Perspektiven (Patienten*innen, Versorger, Akteure) und verschiedenen Datenquellen bei der Entwicklung und Evaluation von Interventionen zur Verbesserung der Versorgung.

Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey, Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, würdigte die bisherige Arbeit aller Beteiligten und erinnerte an die zeitgleiche Antragstellung von NAVICARE und EMANet, dem anderen BMBF-geförderten Netzwerk an der Charité. Beide Projekte seien Teil einer rasanten Entwicklung der Versorgungsforschung an der Charité, die mit der diesjährigen Gründung der Plattform – Charité Versorgungsforschung einen ersten Meilenstein erreicht habe. Die Vernetzung von Projekten und Instituten innerhalb der Charité sei ein wichtiger Schritt, um die Versorgungsforschung der Charité langfristig nach außen zu tragen.

Im Rahmen zweier Forschungsprojekte wurden in NAVICARE anhand verschiedener Datenquellen und Perspektiven Schwachstellen in der Versorgung ermittelt und zwei Interventionen zur Patientennavigation entwickelt. Übergeordnete Fragen der Vorträge waren:

Wie kann Versorgung anhand verschiedener Datenquellen abgebildet werden? Was können wir aus den gewählten Perspektiven über Versorgung lernen?

Im interdisziplinären Teilprojekt CoreNAVI wurde unter der Leitung von Prof. Dr. Christine Holmberg eine detaillierte Bedarfsanalyse anhand verschiedener Datenquellen als Grundlage zur Entwicklung eines patientenorientierten Navigationsmodells durchgeführt. Hierfür wurde eine systematische Recherche vorhandener Unterstützungsangebote für Lungenkrebs- und Schlaganfallpatient*innen im Berliner Raum durchgeführt. Auch wurde die Versorgung aus der Perspektive von Patient*innen und Versorgern mittels qualitativer Interviews untersucht, mit dem Fokus auf wahrgenommene Versorgungsbarrieren und resultierende Verbesserungsvorschläge für die Versorgung. Zudem wurden durch Sekundärdatenanalysen von Krankenkassen- und Krebsregisterdaten vulnerable Patientengruppen identifiziert, welche ein erhöhtes Risiko einer nicht-leitliniengerechten Versorgung haben.

Die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Dr. Kathrin Gödde und Hella Fügemann stellten gemeinsam die Ergebnisse vor. So wurden zwei Broschüren entwickelt, die eine umfassende Übersicht über Beratungs- und Unterstützungsangebote für Lungenkrebs- und Schlaganfallpatient*innen und deren Angehörige im Raum Berlin enthalten und als PDF auf der NAVICARE-Webseite verfügbar sind. Ergebnisse der Analyse von Krankenkassendaten zur leitliniengerechten Versorgung Schlaganfallbetroffener in Berlin wurden kürzlich im Fachmagazin Diability and Rehabilitation publiziert. Die unterschiedlichen Perspektiven wurden in interdisziplinärer Arbeit zu einem patientenorientierten Navigationsmodell zusammengesetzt, welches auf dem Deutschen Kongress für Versorgungsforschung 2019 erstmalig vorgestellt und diskutiert wurde. Dieses Modell wird in der zweiten Förderphase hinsichtlich Machbarkeit, Akzeptanz und Praktikabilität evaluiert. Zudem werden erste Schätzer zur Lebensqualität, Zufriedenheit mit der Versorgung und Kosteneffektivität erhoben.

Um mehr über die gesundheitsökonomische Perspektive für die Versorgung und neue Versorgungskonzepte zu erfahren, war Prof. Dr. Juliane Köberlein-Neu von der Bergischen Universität Wuppertal eingeladen. In ihrem Gastbeitrag erläuterte sie die Relevanz gesundheitsökonomischer Evaluationen zur Unterstützung von Allokationsentscheidungen auf verschiedenen Versorgungsebenen: in der Gesetzgebung, kassenintern oder bei den Behandlern. Ebenso sind sie für Implementierungsprozesse wichtig, wenn es um Nutzenverteilung, Ausgleichsmechanismen oder Anreizstrukturen geht. Auch liefern unterschiedliche qualitative und quantitative Datenquellen einen anderen Einblick in die Versorgung: Kostenelemente wie die medizinische Versorgung, Patienten-/Angehörigenzeit, Transportkosten oder Lohnfortzahlungen beleuchten auf unterschiedliche Weise die Perspektiven der Leistungserbringer, Patient*innen, Versicherungen oder der Gesellschaft. Wichtig sei, betonte Prof. Köberlein-Neu, dass gesundheitsökonomische Expertise frühzeitig in Projekte integriert werde, um die erforderlichen Daten zu erheben.

Unter der Leitung von Prof. Dr. Christoph Heintze, stellvertretender Sprecher von NAVIACRE, wurde im Teilprojekt COMPASS die hausärztliche Perspektive beleuchtet. Dafür wurden vorhandene Navigationsmechanismen zur Versorgung multimorbider Patient*innen innerhalb und außerhalb von Hausarztpraxen mittels qualitativer Interviews mit Hausärzt*innen und medizinischen Fachangestellten untersucht. Auch wurde eine Einschätzung zur potentiellen Übertragung koordinativer Aufgaben an medizinische Fachangestellte (MFA) zur Versorgung multimorbider Patient*innen vorgenommen.  Dazu wurden eine Fragebogenerhebung unter Berliner Hausärzt*innen sowie Daten aus einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) genutzt. Zudem wurden Fokusgruppen mit Hausärzt*innen durchgeführt zur Entwicklung von möglichen Lösungsansätzen für eine verbesserte Navigation multimorbider Patient*innen, um diese besser zu versorgen.

Die Ergebnisse der Bedarfsanalyse in Berliner Hausarztpraxen zur verbesserten Versorgung multimorbider Patient*innen und Entlastung von Hausärzt*innen wurden von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Dr. Lisa Peter und Judith Stumm vorgestellt. Die vor kurzem im Fachmagazin BMC Family Practice veröffentlichte Interviewstudie aus COMPASS zeigt, dass ältere, multimorbide Patient*innen mit komplexen Versorgungsbedarfen besonders vulnerabel sind und Hausärzt*innen vor besondere Herausforderungen wie hoher sozialer und sozialrechtlicher Beratungs- und Unterstützungsbedarf (z.B. Organisation von Pflege und Haushaltshilfe) stellen, die über die medizinische Versorgung hinausgehen. Zur Entlastung der Hausärzt*innen könnten administrative und organisatorische Tätigkeiten an MFA innerhalb der Praxis delegiert oder an eine externe, fachlich geschulte Person in einer Praxiskooperation auf Bezirksebene übertragen werden. Die Auswertung des KBV-Surveys zeigt zudem, dass ein Großteil der Bevölkerung einer Übertragung ärztlicher Tätigkeiten an speziell dafür ausgebildete Arzthelferinnen positiv gegenübersteht. Ausgehend von diesen Ergebnissen wird in der zweiten Förderphase eine Machbarkeitsstudie zum Auf- und Ausbau einer Kooperation Berliner Hausarztpraxen und Pflegestützpunkten zur Verbesserung der Versorgung multimorbider Patient*innen durchgeführt und ergänzend eine repräsentative Bevölkerungsumfrage genutzt, um Kenntnisse, Präferenzen und Inanspruchnahme im Hinblick auf Unterstützungs- und Serviceleistungen wie Pflegestützpunkte und Navigationsprogramme zu erfassen.

In einem Gastbeitrag veranschaulichte Prof. em. Dr. Dr. Heiner Raspe am Beispiel der Versorgung von Patient*innen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) Aufgaben der Koordination. Diese „multifokalen“ Erkrankungen erfordern eine Komplextherapie, bei der sowohl die Krankheit selbst, ihre Implikationen, Folgeerkrankungen und Therapiefolgen als auch emotionale, kognitive und soziale Probleme im biografischen und situativen Kontext behandelt werden müssen. Prof. Raspe nannte fünf Merkmale einer guten Versorgung: 1) Eine zügige Diagnose- und Prognosestellung 2) ein Screening zu psychosozialen Problemfeldern 3), die Berücksichtigung aktueller Behandlungsleitlinien, 4) ein gutes regionales Versorgungsnetzwerk aus unterschiedlichen Akteur*innen (MFA, Fachärzt*innen, Ehrenamtliche, Case Manager, Navigator*innen, Psycholog*innen, Pflegekräfte, Rehazentren und Versorgungsämter) sowie 5) regelmäßige Patientenschulungen und Anregung zur aktiven Beteiligung an der eigenen Behandlung und deren Organisation.

Vor historischer Kulisse der Hörsaalruine am Charité Campus Mitte präsentieren Wissenschaftler*innen aus NAVICARE ihre Forschungsergebnisse einem interessierten und vielfältigen Publikum und diskutierten diese mit Patient*innen, Hausärzt*innen und versorgungswissenschaftlichen Expert*innen (©Charité, Fotos: Kerstin Jana Kater).

Zur Zusammenführung der verschiedenen Perspektiven wurde abschließend eine Podiumsdiskussion geführt. Neben den versorgungswissenschaftlichen Expert*innen Prof. Köberlein-Neu und Prof. Raspe diskutierten Frau Sandra Fäller und Herr Siegfried Schubert als Vertreter*innen der Patientenperspektive sowie der Vorstandsvorsitzende des Hausärzteverbandes Berlin und Brandenburg e.V., Dr. Wolfgang Kreischer, mit.

Zur Frage, ob unsere bestehenden Versorgungsstrukturen an sich gut, aber nur schlecht vernetzt seien und ob es daher reiche, die Zusammenarbeit unterschiedlicher Versorger*innen zu fördern, oder ob wir neue Strukturen brauchen, berichtete Schlaganfallpatientin Sandra Fäller von ihren eigenen Erfahrungen: „Ich hätte so gern eine Person gehabt, der ich all meine Fragen stellen kann. Nicht einmal den Sozialarbeiter, einmal den Arzt, einmal den Physio- und einmal den Ergotherapeuten. […] Nach der Reha konnte ich noch nicht wieder richtig sprechen und sollte aber alles selbst organisieren und Leute anrufen.“ Besonders ältere und alleinstehende Personen brauchen Unterstützung bei organisatorischen Aufgaben, wie z.B. bei der Suche nach Fachärzt*innen. Für Hausarzt Dr. Wolfgang Kreischer zeige dies, dass das System objektiv zwar funktioniere, Patient*innen sich aber subjektiv schlecht versorgt fühlen. Er plädierte für eine stärkere Zusammenarbeit der Versorger*innen.

Prof. Juliane Köberlein-Neu gab zu bedenken, dass heutzutage aufgrund der hohen Spezialisierung in der Versorgung immer Personen notwendig seien, die durch das Versorgungssystem leiten. Aus gesundheitsökonomischer Perspektive sollte dabei bedarfs- und zielorientiert im Sinne der Patient*innen gehandelt werden. Neue Versorgungsformen erfordern nicht immer neue Berufsgruppen, stattdessen gebe es viel ungenutzte Kompetenzen, wie beispielsweise die Case Manager in den Pflegestützpunkten. Statt der Schaffung neuer Strukturen sollte das Navigationsmodell von NAVICARE vulnerablen Patient*innen dienen und sie besonders in der ambulanten Versorgung nach der Reha unterstützen, meint Dr. Nina Rieckmann. Prof. Heiner Raspe fügte hinzu, dass die Medizin bei den neuen Modellen möglicherweise mehr berücksichtigt werden sollte, da der Fokus stark auf psychosozialen Aspekten liege.

Dies führte zu der Rolle der Hausärzt*innen bei der Koordination der Patientenversorgung. Während zwischen Hausärzt*innen und Patient*innen meist ein Vertrauensverhältnis bestehe, kann dies durch die Personalrotation in Kliniken und Ambulanzen nur schwer entstehen, berichteten Frau Fäller und Herr Schubert. Diese Diskontinuitäten in der Versorgung seien der Work-Life-Balance geschuldet, erklärte Prof. Heiner Raspe. Hausärzt*innen, die häufig die Koordination und Weiterleitung der Facharztversorgung vornehmen, durch Aufgabendelegation an MFA zu entlasten, hielt Herr Schubert daher für sinnvoll. Dr. Wolfgang Kreischer beschrieb einen Strukturwandel in den Hausarztpraxen, der auf die älterwerdende Bevölkerung und neuen Versorgungsbedarfe (wie vermehrte Hausbesuche) reagiere. Es gebe immer weniger Einzelpraxen und stattdessen mehr Kooperationen, dieser Strukturaufbau brauche jedoch noch einige Zeit.

Ein Berliner Hausarzt im Publikum kritisierte hingegen die aktuellen Versorgungsstrukturen. Er wünsche sich als Hausarzt mehr Zeit für die medizinische Arbeit, für die individuelle Begleitung der Patient*innen und eine reflektierte Entscheidungsfindung, das Abrechnungssystem sei jedoch viel zu bürokratisch. Die vorhandenen Ressourcen sollten sinnvoller eingesetzt werden. „Ich will als Arzt nicht den ganzen Tag nur Krankschreibungen ausstellen, sondern Leute behandeln, die es brauchen.“ Auch Dr. Kreischer sah das Problem der bürokratischen Abrechnungsstruktur. Es gebe immer ein „Verteilungsproblem“ mit anderen Versorger*innen, die unabhängig von der kassenärztlichen Vereinigung und ökonomischem Druck agieren können. Dennoch sagte er: Wir [die Hausärzte, Anm. der Autor*innen] wollen Lotsen sein, wir wollen Navigator sein. Wenn wir die Möglichkeit haben, machen wir das auch.“ Auf die Frage nach Forschungsansätzen aus der Gesundheitsökonomie meinte Prof. Köberlein-Neu, dass die Vergütungsstruktur geändert werden müsse, da der Zeitaspekt und individuelle Patientenzentrierung nicht adäquat berücksichtigt werde.

Prof. Raspe sah verschiedene Ebenen, auf denen Veränderungen vorgenommen werden könnten. Beispielsweise könnten andere rechtliche oder finanzielle Regelungen die Versorgungssituation verbessern. Es sei aber auch ein „Kulturwandel“ nötig, der die Professionalität des Arztberufes höher wertet als Abrechnungen. Eine Pauschale für die Versorgung der Bevölkerung funktioniere nicht, da ein solches System ausgenutzt würde. „Wenn wir eine Gesprächspauschale einführen, würde es plötzlich nur noch Arztgespräche geben.“ Andere Modelle wie die Priorisierung sind in Deutschland aus ethischen Gründen nicht vorgesehen. Frau Fäller fragte jedoch, warum es problematisch sei, neue Strukturen einzuführen. „Warum soll es nicht gehen, dass z.B. Sozialarbeiter Aufgaben erledigen, die jetzt einfach niemand erledigt? Zum Beispiel Schreibarbeiten oder sich darum zu kümmern, dass Patient*innen regelmäßig zum Arzt gehen?“

Aus der Diskussion gingen drei konträre Positionen hervor: (1) Unser Versorgungssystem ist gut und muss nur verbessert werden. (2) Wir brauchen ein radikal anderes System, insbesondere im Hinblick auf die Leistungsabrechnung. (3) Radikale Veränderungen sind notwendig, aber nicht umsetzbar. Dennoch ließ sich festhalten, dass die Unterstützung in und um die Hausarztpraxis ausgebaut werden sollte und die vulnerablen Patientengruppen aktiv inkludiert werden müssen, die bisher im System nicht optimal versorgt sind.

Für die vielfältigen Beiträge und Diskussionen sowie die hilfreichen Anregungen zur Ausrichtung der nächsten Projektphase bedanken wir uns sehr herzlich bei allen Beteiligten!

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